Montag, 17. Juli 2017

Arbeitsproduktivität als Fetisch einer angeblichen Leistungsgesellschaft


Der eine oder andere wird sich noch an sie erinnern - an die "Partei der Leistungsträger". So hatte sich die FDP schon in den 1990er Jahren unter dem Vorsitzenden Klaus Kinkel selbst abzusetzen versucht von den anderen Konkurrenten auf dem Markt um Wählerstimmen und die offenherzige Ausrichtung als Klientelpartei hat ihr eine Menge Sympathien gekostet. Der damalige FDP-Generalsekretär Werner Hoyer war sogar so ehrlich, von der "Partei der Besserverdiener" zu schwärmen, was im Volksmund schnell und kompakt in "Zahnärzte-Partei" umdefiniert wurde. Und schon sind wir mittendrin im hier interessierenden Schlamassel, denn auch wenn Zahnärzte eine wichtige und anerkennenswerte Leistung erbringen (können), so wurde doch von vielen das Problem erkannt, das hinter dem klientelistischen Zugriff auf bestimmte "Leistungsträger" steht: Die Anbindung an Einkommen, an einen bestimmten (gesellschaftlich so definierten bzw. verzerrten) Status, die offen oder versteckte Abwertung vieler anderer, die es "nicht geschafft" haben, obwohl viele von ihnen durchaus eine Menge "schaffen", hier verstanden im Sinne des schwäbischen Verbs.
Auf der anderen Seite und unabhängig von einer normativen oder stilistischen Bewertung dieser schamlosen Abgrenzung nach unten muss man dem Ansatz zugute halten, dass er offen anspricht, was durchaus weit verbreitet ist in unserer Gesellschaft: »Die Arbeitsleistung, so heißt es, ist das Fundament der Gesellschaft, die dadurch zur Leistungsgesellschaft wird, in der jeder gemäß seiner Leistung bezahlt wird oder werden sollte.«

Diese Worte stammen aus dem lesenswerten Artikel Die Lüge von der Leistungsgesellschaft von Stephan Kaufmann. Er spricht auch gleich die Schwierigkeit an, die mit dieser ob explizit oder implizit weit verbreiteten Vorstellung einer "gerechten Vergütung" verbunden ist: »Das Problem: Die wirtschaftliche Leistung des Einzelnen lässt sich überhaupt nicht errechnen. Und was sich errechnen lässt, hat mit der gängigen Vorstellung von Leistung wenig zu tun.«

Und notwendigerweise taucht Kaufmann ein in ein höchst vermintes Gelände:

»Leistung soll den Beitrag jedes Individuums zur gesamten Wirtschaftsleistung benennen. Sie dient als Erklärung für das Einkommen – und damit für Einkommensunterschiede.«

Das aber hört sich einfacher an als es ist und Kaufmann erläutert uns das ganz handfest:

»Doch wie misst man Leistung? Nicht unbedingt am Arbeitseinsatz oder Engagement. Jemand, der sich anstrengt und lange arbeitet, leistet nicht unbedingt mehr als jemand, der es ruhiger angehen lässt. Was zählt, ist das Ergebnis. Eine besondere Leistung scheint auch nicht vorzuliegen, wenn jemand einen besonders schmutzigen, anstrengenden, monotonen oder unbeliebten Job erledigt – eher ist es umgekehrt: schlechte Jobs werden auch schlecht bezahlt.

Das Einkommen richtet sich auch nicht danach, wie gesellschaftlich nützlich eine Arbeitsleistung ist: So erhält eine Altenpflegerin weniger Geld als ein Ingenieur, der am Sound eines Porsche-Motors bastelt – und der Ingenieur erhält weniger als ein Banker, der mit Aktien spekuliert.«

Und schon sind wir angekommen bei der Auseinandersetzung um die Frage, was denn einen gerechten Lohn ausmacht. Da wird es naturgemäß sehr unterschiedliche Auffassungen geben. Kaufmann verweist an dieser Stelle auf einen ganz zentralen Begriff der Ökonomen, mit dem man - scheinbar - dem Dilemma entgehen kann, das sich hier öffnet: der Produktivität.

»Hoch produktive Arbeitskräfte werden demnach besser bezahlt, im Niedriglohnsektor tummeln sich die Niedrigproduktiven.«

 Das Argument wird vielen bekannt vorkommen - aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen. Die "hohe Arbeitsproduktivität" wird beispielsweise gerne als Legitimation dafür herangezogen, dass die Arbeitnehmer in den deutschen Automobilwerken von Daimler & Co. ein vielfach höheres Gehalt mit nach Hause nehmen können als die rumänischen Arbeiter, die Dacia-Autos zusammenschrauben, die dann zu sehr günstigen Preisen in Deutschland verkauft werden.

Aber auch am anderen, also unteren Ende der Lohnskala spielt die Arbeitsproduktivität eine gewichtige Rolle. Man denke hier nur an die teilweise abenteuerliche Argumentation der Mindestlohngegner. Denn die haben vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns explizit produktivitätsorientiert argumentiert - und für viele erst einmal durchaus nachvollziehbar. Wenn die Arbeitnehmer beispielsweise in der Gastronomie oder wo auch immer nicht die 8,50 Euro pro Stunde (plus Arbeitgeberkosten) "erwirtschaften", dann wird man sie entlassen müssen. Auf dieser simplen Annahme basieren die ganzen Vorhersagen über den Jobkiller Mindestlohn, die sich bis heute nicht bewahrheitet haben, die aber im Vorfeld und kurz nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes gerne kolportiert wurden und von manchen Hardcore-Vertretern der Ökonomen-Zunft heute noch wie eine Monstranz vor sich hergetragen wird.

Man kann das aber auch anders deuten: Wenn es den Arbeitnehmern gelingen würde, ihre "Produktivität" zu steigern, dann werden sie auch zu einer höheren Bezahlung kommen können. Nur ist das eben nicht so einfach mit "der Produktivität" und dem bereits verengten Verständnis, das sich dahinter verbirgt:

Machen wir das an konkreten Beispielen deutlich, die Stefan Dudey in einem Blog-Beitrag unter dem schönen Titel Eine dringende Frage an neoklassisch ausgebildete Ökonomen entwickelt hat, der bereits 2013 veröffentlicht wurde:

»So komme ich in Berlin auf verschiedenen Straßen rund um das Brandenburger Tor immer wieder an freundlichen Menschen vorbei, die als Beruf dort gelegene Botschaften und andere wichtige Gebäude bewachen. Die machen das ganze Jahr über Schichtdienst rund um die Uhr, bei Sonne und Regen, um ihre Bewachungsaufgaben zu leisten. Natürlich werden sie durch installierte Kameras unterstützt, aber ganz kann man an bestimmten Stellen auf diese Leistung nicht verzichten. Jetzt die Frage: Werden die eigentlich Jahr für Jahr produktiver? “Erwirtschaften” die in diesem Jahr geschätzt 1,5% mehr Sicherheit als im Vorjahr?«

Ein weiteres Beispiel, das er heranzieht, sind die Busfahrer:

»Höhe, Breite und Länge beim Bus sind gesetzlich begrenzt, und somit passen auch nur begrenzt viele Fahrgäste hinein. Der Busfahrer fährt seine Schicht, hält die Geschwindigkeitsregeln ein und wird vermutlich (wegen zunehmendem Individualverkehr und immer mehr Stau) von Jahr zu Jahr in seiner pro Stunde durchschnittlich geleisteten Zahl an Personenkilometern immer schlechter. Müsste man ihm nicht den Reallohn jedes Jahr kürzen, weil er real immer weniger leistet? Er kann auch bei bestem Bemühen eigentlich nichts dafür, das ist klar, aber seine Produktivität wird nun mal messbar schlechter.«

Man könnte die Liste der vielen Berufe, die von diesem scheinbaren Produktivitäts-Paradoxon betroffen sind, beliebig fortführen: »Auch bei Fensterputzern, Klavierstimmern, Psychotherapeuten, Fliesenlegern, Hornisten bei den Bayreuther Festspielen und vielen anderen Berufen scheinen mir die technischen Möglichkeiten der Produktivitätssteigerung oft ausgereizt zu sein«, so Dudey.

Und nehmen wir beispielsweise einen wichtigen Bereich wie die Pflege. Wie soll in diesem Bereich Jahr für Jahr eine Produktivitätssteigerung von 1 oder 2 Prozent realisiert werden? Man muss sich klar machen, was das bedeuten würde bzw. in der Praxis der Pflege leider tatsächlich auch bedeutet: Da steht nur über die Rationierung der pflegerischen Arbeit, mithin der menschlichen Zuwendung, des sich Zeit nehmen für die zu Pflegenden, über den Einsatz von Windeln mit einem Fassungsvermögen von mehreren Litern Urin, um nicht zu oft am Patienten arbeiten zu müssen - anders formuliert: Eine Produktivitätssteigerung im engeren Sinne würde in vielen Fällen Pflegenotstand bedeuten, bis hin zu Pflegemisshandlungen.

Aber genau an dieser Stelle sind wir angekommen an einem großen Problem, das mit dem Begriff bzw. der Verwendung von "Arbeitsproduktivität" verbunden ist.

Man muss an dieser Stelle einen kurzen Exkurs machen. Dauernd geht es auch in diesem Beitrag darum, was die Arbeitnehmer "erwirtschaften", was also ihre Arbeit in Geldeinheiten bringt. Dabei muss man darauf verweisen, dass der Produktivitätsbegriff eigentlich eine "mengenmäßige Rationalität" abbildet, während die "wertmäßige Rationalität" das Gefilde der "Wirtschaftlichkeit" ist.  In diesem Sinne kann man "Produktivität" also definieren als Ergiebigkeit der bei der Produktion eingesetzten Mittel (z.B. Arbeitsleistung, Maschinen, Werkstoffe). Es geht also um die Messung des Erfolgs des Leistungsprozesses. Die Messung der Produktivität kann sich auf die Ergiebigkeit der Arbeit (Arbeitsproduktivität) oder die Messung anderer Einsatzfaktoren beziehen (z.B. Produktivität einer Maschine) beziehen. In diesem "klassischen" Verständnis geht es also nicht primär um Geldbeträge, sondern um den mengenmäßigen Output im Verhältnis zum mengenmäßigen Input, bei der Arbeitsproduktivität also vor allem die Arbeitszeit als Input.

Beispiel: Ein Fliesenlegerbetrieb verlegte in einem bestimmten Abrechnungszeitraum 25.000 qm Bodenfliesen. In dieser Zeit wurden 20 Fliesenleger beschäftigt. Die durchschnittliche Arbeitsproduktivität je Mitarbeiter liegt damit in diesem Zeitraum bei 1.250 qm.

An diesem Beispiel wird auch erkennbar, warum es beispielsweise für die personenbezogenen Dienstleistungen, mit denen wir es gerade im sozialen Bereich zu tun haben, so schwer ist, jährliche oder überhaupt Produktivitätssteigerungen zu realisieren. Wenn man Beratungsgespräche mit schwierigen Klienten führen muss, dann ist der erreichbare Output nach oben naturgemäß begrenzt - außer man steckt eine ganze Gruppe von Rat- und Hilfesuchenden in eine Gruppe und berät diese zusammen statt alle einzeln, was man vielleicht machen kann (und was auch immer wieder versucht wird, man denke hier an die Arbeitsagenturen und Jobcenter als ein Beispiel), was aber für viele sicher verständlich in vielen Fällen nichts bringt oder sogar kontraproduktive Wirkungen entfalten kann.

Aber es gibt noch eine andere Verwendung des Begriffs "Arbeitsproduktivität" - und mit der wurden wir bereits beim Mindestlohnbeispiel konfrontiert, aber auch Stephan Kaufmann ruft sie in seinem Artikel auf. Er schreibt darin:

»Gemessen wird Produktivität an Kennzahlen wie Gewinn je Mitarbeiter oder Umsatz je Mitarbeiter oder gesamte Wirtschaftsleistung je Erwerbstätiger. Das jedoch bedeutet: „Nicht die Anstrengung, das Talent oder das Produkt zählt, sondern nur das Marktergebnis“ ... Was am Markt keinen Erfolg hat, was sich nicht verkauft, gilt Ökonomen nicht als Produkt. Wer hart arbeitet und etwas Gutes herstellt, das sich aber nicht verkauft, war unproduktiv und hat damit nichts geleistet.«

Nun könnte man als ökonomischer Purist argumentieren, dass da einiges durcheinander geht, denn Gewinn je Mitarbeiter ist eigentlich eine Rentabilitätsgröße und Umsatz je Mitarbeiter eine Wirtschaftlichkeitsgröße, aber nicht die Produktivität, wenn man diese als eine mengenmäßige Rationalität definiert.

Aber auch im volkswirtschaftlichen Diskurs hat sich die Auffassung verankert, dass das BIP je Erwerbstätigen bzw. das BIP je Erwerbstätigenstunde Ausdruck der "Arbeitsproduktivität", genauer: der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität ist. Das kann man so festlegen, hat aber gewichtige Implikationen.

Auch Kaufmann benennt die Folgen: Eine so verstandene »Produktivität ist also kein Maßstab für individuelle Arbeitsleistung, sondern drückt schlicht aus, wie erfolgreich der Betrieb oder die ganze Wirtschaft ist.« Dieser Erfolg »wiederum hängt nicht vom Arbeitseinsatz der Belegschaft ab, sondern von unzähligen Dingen – dem Ölpreis, dem Wechselkurs, dem Stand der Konjunktur, dem Weltmarkt, der gesellschaftlichen Verteilung, den Aktienmärkten – und vor allem den Strategien der Konkurrenz: Ein Buchhändler mag klug und tüchtig sein, doch wenn Amazon den Markt aufrollt, ist alle Anstrengung vergebens und seine Leistung nichts wert.«


Man kann sich den hier angesprochenen Unterschied zwischen einer individuellen und einer gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität auch verdeutlichen, wenn man sich die Abbildung mit der Entwicklung des Wachstums der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität je Arbeitsstunde in Deutschland, die am Anfang dieses Beitrags zu finden ist, anschaut. Deutlich zu erkennen ist der Rückgang der Wachstumsraten der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität seit den 1970er Jahren - noch deutlicher würde das werden, wenn man die Wachstumsraten der 1950er und 1960er Jahren mit aufgenommen hätte. Die trendmäßige Abnahme der Wachstumsraten der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität ist übrigens ein Phänomen, das wir in allen entwickelten Volkswirtschaften beobachten, nicht nur in Deutschland, wie die Abbildung an ausgewählten Beispielen verdeutlichen kann. Die Nachrichtenagentur Bloomberg bringt es in einem Beitrag zum Thema Productivity auf den Punkt: »The idea is simple: A nation’s productivity is calculated by dividing what it produces by the labor it took to provide those goods and services. What’s confounding economists is why productivity growth has slowed in many countries during the last decade, even as other economic gauges have improved. There’s a lot of disagreement on why — a mismatch between jobs and skills? Fewer innovations? Aging populations? Measurement problems?«

Carla Neuhaus setzt sich in ihrem Artikel Die Wirtschaft wächst - wird aber kaum effizienter mit dem gleichen Problem auseinander. Und aufmerksamkeitssteigernd schiebt sie der Überschrift gleich hinterher: »Trotz Digitalisierung, Internet und Robotern wird die Wirtschaft nicht produktiver. Ökonomen sorgen sich deshalb bereits um den Wohlstand.«

»In Deutschland nimmt die Arbeitsproduktivität kaum noch zu. Während sie von 1996 bis 2006 im Schnitt noch um 1,7 Prozent pro Jahr gestiegen ist, lag der Zuwachs zwischen 2006 und 2016 nur bei 0,7 Prozent. Der Sachverständigenrat macht sich deshalb Sorgen. Die Ökonomen halten „die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen“ und „den materiellen Wohlstand“ in Deutschland für gefährdet. Dabei steht die Bundesrepublik mit dem Problem nicht allein da: In fast allen Industrienationen ist die Arbeitsproduktivität seit den 1970er Jahren gesunken.«

Zur Erklärung dieses Phänomens ruft sie dann die Thesen des US-amerikanischen Ökonomen Robert Gordon auf: »Neuere Innovationen wie Facebook, Uber oder YouTube haben die Produktivität ... laut Gordon kaum gesteigert. Selbst Tech-Experten sehen das ein. Investor Peter Thiel sagt in Anspielung auf den Kurznachrichtendienst Twitter: „Wir wollten fliegende Autos – bekommen haben wir 140 Zeichen.“«

Aber es gibt auch Stimmen, die in eine andere Richtung argumentieren: »Barry Eichengreen von der University of California in Berkeley argumentiert, dass technischer Fortschritt Zeit braucht; dass sich Erfindungen nicht sofort positiv auf Produktivität und Wirtschaftswachstum auswirken – sondern erst nach Jahren, wenn sie massentauglich werden. So hat Thomas Edison zum Beispiel die Glühbirne bereits 1897 erfunden; die Welt verändert hat das aber erst, als ab den 1920er Jahren auch die Privathaushalte elektrisches Licht bekamen.«

Und im weiteren Gang der Argumentation verweist sie auf die besondere Bedeutung des zunehmenden Anteils von Dienstleistungen an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung:

»So entstehen seit Jahren neue Jobs vor allem im Dienstleistungssektor. In Deutschland steht der bereits für 70 Prozent der Wirtschaftsleistung. Doch ausgerechnet im Dienstleistungssektor wächst die Produktivität traditionell eher langsam. Führt eine Fabrik eine neue Maschine ein, können die Arbeiter dort plötzlich in derselben Zeit sehr viel mehr produzieren als vorher. Bei Dienstleistern funktioniert das weniger gut: Ein Friseur kann nicht auf einmal in derselben Zeit mehr Menschen die Haare schneiden, nur weil er eine neue Schere bekommt ... Verstärkt wird die Entwicklung noch dadurch, dass im Dienstleistungssektor oft Geringqualifizierte angestellt werden. Sie übernehmen meist arbeitsintensive Jobs. Auch das senkt die Arbeitsproduktivität weiter – selbst wenn es gesellschaftlich ein Erfolg ist, mehr Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren.«

Aber es sind nicht nur die Dienstleistungen, die zu einer Abnahme der Arbeitsproduktivitätsentwicklung beigetragen haben: »Selbst in der Industrie hat sich ihr Wachstum abgeschwächt. Ist die Arbeitsproduktivität der deutschen Industrie von 1995 bis 2005 noch im Schnitt um 3,1 Prozent jährlich gewachsen, sind die Zuwachsraten inzwischen nur noch halb so hoch.« Was kann das nun wieder erklären? Neuhaus zitiert dazu die Ökonomen vom Sachverständigenrat:

»So ist die Produktivität der Industrie Ende der neunziger Jahre deshalb so stark gestiegen, weil Firmen große Teile der Fertigung ins Ausland verlagert haben. Outgesourct wurden dabei vor allem solche Schritte, die besonders arbeitsintensiv und dadurch wenig produktiv sind. In Deutschland verblieben ist die Endmontage, durch die volkswirtschaftlich gesehen die höchste Wertschöpfung entsteht. Seit 2009 ist das Outsourcing ... jedoch zum Ende gekommen – in der Folge hat sich das Wachstum der Produktivität abgeschwächt.«

Man könnte natürlich an dieser Stelle auch auf die Idee kommen, dass eine bereits hoch technisierte Industrie konfrontiert ist mit dem bekannten Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen, in diesem Fall von Optimierungsverfahren und technischen Verbesserungen, die am Anfang große Wirkungen zeigen, im weiteren Verlauf dann aber immer schwerer zu bewegen sind.

Warum die Produktivität nur langsam steigt, so lautet die Überschrift eines Artikels von Werner Vontobel. Auch er legt den Finger auf die Definitionswunde von Arbeitsproduktivität:

»Die Produktivität misst nicht das, was die Ökonomen glauben. Schauen wir genauer hin. Als Produktivität bezeichnen wir den Quotienten aus dem jährlichen BIP eines Landes geteilt durch die geleisteten Arbeitsstunden. Das BIP ist die Summe aller Produkte und Dienstleistungen, gewichtet mit deren Preis und dieser wiederum misst, wie viel der Kunde (der Markt) zu zahlen bereit ist. Das ist der Grund, warum Anlageberater von Milliardären und Schönheitschirurgen eine höhere Produktivität haben haben als ... Landärzte.«

Und dann kommt seine scheinbare widersprüchliche Schlussfolgerung: »Die "Produktivität" misst also nicht so sehr die Umsetzung des technologischen Fortschritts als vielmehr die durchschnittliche Zahlungsbereitschaft der Wirtschaftssubjekte – und die nimmt mit zunehmender Sättigung – sprich mit zunehmender Produktivität ab. Man braucht einfach nicht mehr so viel Zeug – ausser es ist wirklich sehr billig.« Und er spitzt den bereits angeleuchteten methodenkritischen Zugang zum Thema weiter zu:

»Der technologische Fortschritt führt eben nicht nur dazu, dass 100 Arbeitsstunden von Kassiererinnen an der Migroskasse durch 20 Arbeitsstunden von Softwareentwicklern etc. ersetzt werden können. Er bewirkt auch, dass die freigesetzten Arbeitskräfte nicht selten noch weniger produktive Arbeit machen. Etwa als Lagerarbeiter bei Zalando oder als Kurier, der die Zalando-Pakete oft mehrfach zwischen den Kunden und dem Zentrallager hin- und herkarrt. Wäre die entsprechende Arbeit nicht spottbillig (sprich wenig produktiv), gingen wir – wie einst – selber einkaufen. Die Billigarbeiter wiederum können sich medizinische Betreuung nur noch leisten, weil die Krankenhäuser das Pflegepersonal zu Gotteslohn bei karitativen Schwesterschaften anheuern – um nur ein Beispiel zu nennen. Deren Arbeit kann dann zwar hochproduktiv – im Sinne von lebensrettend – sein. Statistisch gesehen fällt sie jedoch unter die Rubrik unproduktiv.«

Eine kontrovers angelegte Artikelsammlung zu diesem volkswirtschaftlich höchst umstrittenen Thema findet man hier: Schwaches Produktivitätswachstum – zyklisches oder strukturelles Phänomen?, Wirtschaftsdienst. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, Heft 2/2017.

Nun aber wieder zurück zu den sozialpolitisch relevanten Implikationen des Themas: Natürlich gibt es weiterhin Bereiche, wo man ansehnliche Produktivitätssteigerung erwirtschaften kann, man denke hier nur an weite Teile der Industrie. Deswegen macht es ja gerade aus einer volkswirtschaftlichen Sicht überaus Sinn, dass Tariflohnsteigerung beispielsweise in der Industrie vereinbart werden, die man dann aber eben auch übertragen muss auf viele Dienstleistungsberufe, in denen aus einer rein betriebswirtschaftlichen Sicht keine höheren Löhne zu rechtfertigen sind, weil sich auch nicht die Produktivität erhöht hat.

Vor diesem Hintergrund erweist es sich als besonders fatal, wenn diese Berufe von der Lohnentwicklung in der Industrie abgekoppelt werden, was betriebswirtschaftlich gesehen durchaus rational, volkswirtschaftlich aber vor dem Hintergrund, dass die Löhne den Hauptbestandteil der Binnennachfrage darstellen, hoch problematisch wäre hinsichtlich der damit verbundenen Auswirkungen auf den Konsum.

Letztendlich manifestiert sich hier der berühmte "Doppelcharakter des Lohnes": Betriebswirtschaftlich gesehen sind Löhne immer Kosten, die man zu senken versuchen wird, während volkswirtschaftlich gesehen die Löhne das Rückgrat der Binnennachfrage darstellen, so dass zu starke Lohnsenkungen, die aus betriebswirtschaftlicher Sicht für das einzelne Unternehmen sinnvoll sein können, in der Gesamtwirtschaft mit verheerenden Folgewirkungen verbunden wären.

Kommen wir zum Schluss wieder zu dem Beitrag von Stephan Kaufmann: »Aber selbst wenn man Produktivität als Maßstab für Leistung anerkennt, so scheitern Betriebe und Ökonomen doch notwendig an der Frage: Welchen Beitrag hat der Einzelne zum gesamten Umsatz des Unternehmens oder einer Branche geleistet? Welcher Teil der Erlöse ist dem Pförtner zuzurechnen, welcher Anteil der Sekretärin, welcher dem Verkaufsleiter?«

Das erinnert einen an die Thematisierung und Auseinandersetzung mit der "Wirksamkeit" beispielsweise in der Kinder- und Jugendhilfe. Da fließen öffentliche Gelder und die Finanziers fragen berechtigterweise an - wirkt das eigentlich, was wir da finanzieren? Und sofort entfaltete sich eine intensive Debatte über die Frage der Wirksamkeit ambulanter oder stationärer Angebote. Aber man könnte an dieser Stelle (und bitte nicht im Sinne einer Abschottung des Handlunsgfeldes von berechtigten Anfragen zu verstehen) einwenden: Wie ist das eigentlich mit der Wirksamkeit des Lichts in der Wohnung: Wer ist für die Wirksamkeit verantwortlich mit welchen quantitativen Beitrag - die Glühbirne, das Stromkabel, die Steckdose, der Strom? Versuchen Sie einmal, diese Frage zu beantworten. Es wird ihnen nicht gelingen können.

In die gleiche Richtung geht auch die Argumentation von Stephan Kaufmann, dabei Gustav Horn vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) aufgreifend: Selbst »wenn man Produktivität als Maßstab für Leistung anerkennt, so scheitern Betriebe und Ökonomen doch notwendig an der Frage: Welchen Beitrag hat der Einzelne zum gesamten Umsatz des Unternehmens oder einer Branche geleistet? Welcher Teil der Erlöse ist dem Pförtner zuzurechnen, welcher Anteil der Sekretärin, welcher dem Verkaufsleiter? Diese Rechnung ist laut Horn ein Ding der Unmöglichkeit.«

Was folgt daraus? Damit eignen sich weder die Produktivität noch die Leistung als Begründung für Einkommensunterschiede in der Gesellschaft. Da muss man schon nach anderen Faktoren Ausschau halten. Beispielsweise Knappheit am Markt - auch wenn das sogleich wieder eingeschränkt werden muss, denn wenn es wirklich Knappheiten wären, die zu höheren Vergütungen führen, dann müssten derzeit beispielsweise die Altenpflegefachkkräfte mit deutlichen Verbesserungen ihrer Löhne bedient werden, haben wir doch bereits in diesem Jahr flächendeckend einen von der Bundesagentur für Arbeit ausgewiesenen Fachkräftemangel in der Altenpflege (vgl. dazu die Fachkräfteengpassanalyse der BA vom Juli 2017).
Dann sind es solche Faktoren wie Stärke der Gewerkschaften, Arbeitsmarktregulation, die Zahl der Bewerber auf einen Arbeitsplatz oder der Erfolg der Unternehmen, um nur einige zu nennen, mit denen man die Höhe der Löhne erklären kann.

Die Leistung des einzelnen Arbeitnehmers ist da sicher ein Teil, aber sicher auch nicht der wichtigste.