Freitag, 28. Juli 2017

Eigentlich könnt ihr zufrieden sein. Oder doch nicht? Eine Studie zur Intensivpflege. Ein Lehrstück zu unterschiedlichen Wahrnehmungen der Pflegewelt


53 Prozent der Kliniken haben Probleme Pflegestellen im Intensivbereich zu besetzen, so wird Thomas Reumann, Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), anlässlich der Vorstellung des Gutachtens Personalsituation in der Intensivpflege und Intensivmedizin, das die DKG beim Deutschen Krankenhausinstitut (DKI) in Auftrag gegeben hat, in der Pressemitteilung Fachkräftemangel - eine Herausforderung für alle zitiert.

Ein Gutachten der Krankenhausträger? Müsste da nicht eigentlich eher Entwarnung signalisiert werden? Die können doch kein Interesse daran haben, die Kliniken in ein problematisches Licht zu rücken? Bevor die Schnappatmung bei dem einen oder anderen Krankenhausmanager einsetzt, wird denn auch sofort eine Klarstellung nachgeschoben:

»Wie die repräsentative Studie zeigt, ist die Versorgung der Patienten objektiv gut. Im Jahresdurchschnitt 2015 lag das Verhältnis von Intensivpatienten zu Pflegekräften bei 2,2 Fällen pro Schicht und Pflegekraft (VK). Die Empfehlung der Fachgesellschaft Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) eines Pflegekraft-zu-Patienten-Verhältnisses von 2 Fällen pro Schicht und Pflegekraft wird im Mittel in etwa erreicht. Das DKI-Gutachten belegt außerdem, dass drei Viertel aller Krankenhäuser die Fachkraftquote in der Intensivpflege erfüllen. Diese liegt durchschnittlich bei 44 Prozent je Krankenhaus (zum Vergleich: Die DIVI empfiehlt mindestens 30 Prozent).«

Also doch alles gut. Oder doch nicht? Denn dann kommt dieser Hinweis von der DKG: »Bundesweit sind in der Intensivpflege derzeit 3.150 Stellen vakant und können nicht besetzt werden.«

Das haben auch einige Medien in der Berichterstattung aufgegriffen. Herausgekommen sind dann solche Artikel: Jedes zweite Krankenhaus findet keine Pflegekräfte: »Krankenhäuser in Deutschland suchen dringend Pflegekräfte auf Intensivstationen. Mehr als die Hälfte der Kliniken hatte nach Angaben der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) im Herbst vergangenen Jahres Probleme, Pflegestellen auf Intensivstationen zu besetzen.« Oder: Zu wenig Personal für Intensivstationen, so hat Rainer Woratschka seinen Beitrag über die neue Studie überschrieben: »Den Kliniken hierzulande fällt es immer schwerer, Pflegekräfte für Intensivstationen zu finden.« Offensichtlich ist die frohe Botschaft, die man verkünden wollte, nicht wirklich eingeschlagen. Oder: Krankenhäusern gehen die Intensivpflegekräfte aus.

Nun könnte man die These aufstellen, dass das eben so ist in der heutigen Medienwelt, wo eher nur die negativen Botschaften zählen, Skandalisierung als Aufmerksamkeitsanker fungiert.

Aber vielleicht ist es ja auch das Gefühl, dass die wahren Probleme in diesem Bereich noch größer sind, als es die trockenen Zahlen andeuten. Rainer Woratschka hat in seinem Artikel bereits einen kritischen Hinweis eingebaut:

»Tatsächlich belegen Statistiken, dass die Personalpolitik der Krankenhäuser an der gegenwärtigen Situation nicht unbeteiligt war. Während das Ärztepersonal zwischen 2007 und 2015 um 28 Prozent aufgestockt wurde, betrug der Zuwachs beim Pflegepersonal im gleichen Zeitraum trotz deutlich gestiegener Fallzahlen gerade mal neun Prozent.«

Die Sichtweise des Verbands der Kliniken wird an diesem Zitat erkennbar: »DKG-Hauptgeschäftsführer Georg Baum sieht die Schuld an dem ungleichen Personalaufwuchs ... in der damals durchgesetzten EU-Arbeitszeitrichtlinie. Weil Bereitschaftsdienste seither als volle Arbeitszeit anzurechnen seien, habe man erst einmal deutlich mehr Ärzte einstellen müssen. Am Ende sei dies auch „ein Beispiel dafür, was willkürliche Normsetzung anrichten kann“.«

An dieser Stelle gehen - nicht nur bei Rainer Woratschka - alle Alarmlampen an:

»Die Stoßrichtung der Krankenhausbetreiber ist klar: Dass sich die Politik nun anschickt, das Problem des Fachkräftemangels in der Krankenpflege mit verbindlichen Personaluntergrenzen anzugehen, gefällt ihnen nicht besonders. „Es macht keinen Sinn, erst Normen festzulegen, die keiner erfüllen kann, und danach dann den Pflegenotstand auszurufen“, sagte DKG-Geschäftsführer Baum.«

Das lichtet den Nebel. Denn die Krankenhäuser haben ein Problem: »Nach den Plänen der Regierung sollen sich Krankenhäuser und Krankenkassen auf feste Personaluntergrenzen für besonders sensible Klinikbereiche verständigen - beispielsweise in Intensivstationen oder im Nachtdienst. Die Vereinbarung soll bis zum 30. Juni 2018 getroffen und zum 1. Januar 2019 wirksam werden.«

Allerdings: Lediglich für Intensivstationen für Neugeborene hat der Gemeinsame Bundesausschuss von Klinikträgern und Krankenkassen einen Personalschlüssel festgelegt, der eigentlich ab Anfang 2017 gelten sollte. Die Allgemeinverbindlichkeit sei durch weitgehende Übergangsregelungen kurz vor Inkrafttreten faktisch wieder aufgehoben worden.
Das mag unangenehm sein. Für die Klinikbetreiber. Aber kann man das auch anders sehen?

»Mit den Zahlen eines heute veröffentlichten DKI-Gutachtens versucht die Deutsche Krankenhausgesellschaft zu belegen, dass die pflegerische Versorgung von Intensivpatienten gut sei. Der DBfK schätzt dies völlig anders ein - belegt durch Fakten und authentische Berichte von Intensivpflegenden. Wir fordern erneut eine deutliche Verbesserung der gesamten Pflegepersonalausstattung in Krankenhäusern.«

So beginnt eine Pressemitteilung des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe, die - fast schon pathetisch  so überschrieben ist: DBfK zur wahren Situation der Intensivpflege im Krankenhaus. „An der Fluktuation und einer Vielzahl unbesetzter Pflegestellen lässt sich inzwischen ablesen, dass Pflegefachpersonen nicht länger bereit sind, sich unter Wert zu verkaufen und miserable Bedingungen hinzunehmen“, wird die DBfK-Sprecherin Johanna Knüppel zitiert.

Die von der DKG mit Bezug auf die neue Studie herausgestellten leichten Verbesserungen »können keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass im selben Zeitraum
  • die Zahl der Klinikärzte überproportional anstieg (jeder Arzt veranlasst weitere Arbeit für die Pflegenden),
  • die Komplexität der medizinischen Versorgung und die Fallzahlen kontinuierlich nach oben gingen,
  • mit dem demografischen Wandel und medizinischem Fortschritt einhergehend die Zahl der multimorbiden und älteren Patientinnen und Patienten enorm zugenommen hat; gerade sie brauchen Pflege in besonderem Maße,
  • ärztliche Routineaufgaben (Blutentnahmen, Injektionen, Infusionen, Dokumentation …) in großem Umfang an die Pflege übertragen wurden ohne adäquate Entlastung der Pflegenden (dies führt zu erheblichen impliziten Rationierungen von Pflegemaßnahmen),
  • die Anzahl und Dauer der berufsbedingten Erkrankungen bei Pflegepersonal von Jahr zu Jahr steigen und diese Fehlzeiten weiteren Druck auf die verbleibenden Pflegenden ausüben,
  • die Qualität der praktischen Ausbildung von Pflegeschüler/innen in den Krankenhäusern durchweg ungenügend ist, weil sie als willkommene Arbeitskräfte verwertet anstatt konsequent ausgebildet werden, und
  • die Personalbemessung in deutschen Krankenhäusern noch immer und mit weitem Abstand das Schlusslicht im Vergleich mit anderen Industrieländern bildet; deutsche Pflegekräfte sind am „produktivsten“.«
Nun könnte man an dieser Stelle einwenden, dass das "natürlich" die Position sein muss derjenigen, die für die Pflegekräfte sprechen wollen. Mithin wäre das eben genau so als interessengeleitete Argumentation zu verbuchen wie die Klimmzüge der Krankenhäuser über die sie vertretende Gesellschaft.

Aber es gibt auch von wissenschaftlicher Seite Unterstützung für die Position der Pflegekräfte. So beispielsweise mit dieser Studie:

Michael Simon und Sandra Mehmecke: Nurse-to-Patient Ratios: Ein internationaler Überblick über staatliche Vorgaben zu einer Mindestbesetzung im Pflegedienst der Krankenhäuser. Working Paper der Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung Nr. 27, Düsseldorf, Februar 2017

Rechtliche Vorgaben für die Personalbemessung in der Krankenpflege sind international verbreitet. Auch in Deutschland, wo die so genannte Nurse-to-Patient-Ratio oft schlechter ist als in vielen anderen Industrieländern, könnten gesetzlich festgelegte Mindestschlüssel Arbeitsüberlastung und Qualitätsmängel lindern, so die Studie, die sich damit eindeutig auf die Seite derjenigen schlägt, die den Weg einer gesetzlichen Vorgabe von Personalschlüsseln präferieren.

Die Relation zwischen Krankenschwestern und Patienten sei nicht nur ein wichtiger Gradmesser für die Qualität der Arbeitsbedingungen, sondern beeinflusse auch die Qualität der Pflege und damit die Patientengesundheit, so Simon und Mehmecke. Empirische Studien hätten gezeigt, dass sich die Personalbemessung unter anderem auf das Risiko von Infektionen, Thrombosen und Todesfällen durch zu spät erkannte Komplikationen auswirkt.

Die beiden Wissenschaftler zitieren die internationale Pflege-Vergleichsstudie RN4CAST aus dem Jahr 2012, der zufolge in den USA durchschnittlich 5,3 Patienten auf eine Pflegefachkraft kommen, in den Niederlanden 7, in Schweden 7,7 und in der Schweiz 7,9. In Deutschland müssen sich Krankenschwestern dagegen im Schnitt um 13 Patienten kümmern.

Und eines sollte man nicht vergessen: Die gesetzlichen Vorgaben in den USA und Australien die Ausstattung mit Pflegekräften betreffend, die in der Studie beschrieben werden, seien auf Kampagnen der in Gewerkschaften und Berufsverbänden organisierten Pflegekräfte zurückzuführen.

Im Pflegealltag heute geht es zunehmend um ganz andere Probleme, dafür beispielsweise dieser Artikel: Klinikpersonal wird knapp: Erste Stationen geschlossen: "Krankenhäuser werben sich Schwestern und Pfleger gegenseitig ab", so diese Meldung. Da wäre beispielsweise das Friedrich Ebert Krankenhaus (FEK) in Neumünster: »Hier berichtet Geschäftsführer Alfred von Dollen: „20 Stellen in der Pflege sind derzeit unbesetzt. Es wird immer schwerer Mitarbeiter zu finden“. Das gelte besonders für OP- und Intensiv-Schwestern und Pfleger.«

Am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel »musste jüngst sogar eine Station mit 20 Betten geschlossen werden, weil Schwestern fehlten, am Standort Lübeck bleiben aus gleichem Grund zehn Betten leer. Hier sucht man zudem Personal für die Notfallmedizin, Dialyse und Kinderheilkunde. Und auch das Flensburger St. Franziskus Hospital hat „zunehmend Personalprobleme und musste schon planbare Eingriffe verschieben“, wie der kaufmännische Direktor Helmut Andresen einräumt.«