Samstag, 17. Februar 2018

Die Altenpflegekräfte bleiben viel länger im Beruf als bislang immer behauptet. Aber Vorsicht ist bekanntlich die Mutter der statistischen Porzellankiste

Mit den Zahlen ist das bekanntlich immer so eine Sache - vor allem in politischen Diskussionen will man gerne die eine Zahl haben, die etwas auf den Punkt bringt. So auch in der Pflege-Debatte: Wie viele Pflegekräfte fehlen denn nun?  Immer wieder wird diese Frage von den Medien gestellt. Deren Vertreter dann überaus frustriert reagieren, wenn man (nicht nur) aus wissenschaftlicher Sicht antworten muss: Kommt darauf an. Soll man bei der Abschätzung des Personalbedarfs von den bestehenden Verhältnissen ausgehen, diese also fortschreiben? Oder darf es nicht ein wenig bis deutlich mehr sein angesichts dessen, was die betroffenen Pflegekräfte selbst an unhaltbaren Konsequenzen eines strukturellen Personalmangels beklagen? Und werden die Pflegekräfte genau so weiter bezahlt wie heute, also vergleichsweise schlecht oder wird es eine deutliche Aufwertung des Berufsbildes auch in monetärer Hinsicht geben?

Und so verhält es sich auch mit einer Frage aus diesem Bereich: Wie lange bleiben denn die Pflegekräfte in ihrem Beruf? Immer wieder bekommt man dazu eine (scheinbar) genaue Angabe serviert: Fünf bis sieben Jahre werden da genannt. Das ist nicht wirklich lange, wenn es denn stimmt. Diese Zahl hat sich verselbständigt und geistert seit Jahren immer wieder durch die Medien. Da horcht man dann auf bei so einer Überschrift: Altenpfleger sind ihrem Beruf treu. Das meldet immerhin das Deutsche Ärzteblatt. Und wir erfahren weiter: »Altenpflegefachkräfte verweilen im Durchschnitt länger als bisher ange­nommen in ihrem Beruf.« Und dann wird es konkret: Eine Studie haben zeigen können, dass Altenpflegekräfte im Durchschnitt auf über 19 Jahre Berufstätigkeit kommen. Das ist ja nun ein ganz anderer Wert als die fünf bis sieben Jahre.

Und das wird sogleich von interessierter Seite, in diesem Fall von dem Verband der privaten Pflegeheimbetreiber, aufgegriffen: „Die Zahlen räumen erneut mit Mythen auf, die seit Längerem durch die Welt geistern“, kommentierte Bernd Meurer, Präsident des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste (bpa). Es sei an der Zeit, dass Berufsverbände und die Politik sie zur Kenntnis nehmen und daran ihr Reden und ihr Handeln ausrichten.

Aber wo kommen die 19 Jahre nun her? Und wie hat man die ermittelt?

Die Quelle ist eine Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion der Linken: "Arbeitsbedingungen in der Altenpflege", so ist die Bundestags-Drucksache 19/608 vom 02.02.2018 überschrieben. Dort findet man auf der Seite 9 die folgenden Ausführungen:

»Die Ermittlung der Verweildauer im Beruf trifft auf erhebliche methodische Probleme. Entsprechend groß ist die Spannbreite der Studienergebnisse. Das BMFSFJ hat daher 2009 eine Studie des Instituts für Wirtschaft, Arbeit und Kultur (IWAK) „Berufsverläufe von Altenpflegerinnen und Altenpflegern“ gefördert. Auf Basis der repräsentativen Beschäftigtenstichprobe des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB; IABS 1975-2004) wurde eine Strukturanalyse u. a. zur Verweildauer im Beruf und den Berufsverläufen von Altenpflegefachkräften (ohne Unterscheidung zwischen ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen) durchgeführt. Erfasst wurden Berufsverläufe vor 2008.

Der Studie ist zu entnehmen, dass die Berufsverläufe von Fachkräften in der Altenpflege, die ihre Berufstätigkeit in den Jahren zwischen 1976 und 1980 aufgenommen haben, sich zum Stichtag 31. Dezember 2004 im Durchschnitt auf über 19 Jahre erstrecken. Ähnliche Trends zeigten sich bei Altenpflegefachkräften, deren Ausbildungsabschlüsse noch nicht so lange zurückliegen. Für den Zeitverlauf hat die Analyse ergeben, dass zum Stichtag 31. Dezember 2004 im Durchschnitt fünf Jahre nach Abschluss der Ausbildung 77 Prozent der Altenpflegerinnen und Altenpfleger im Beruf verblieben sind. Nach zehn Jahren waren es 64 Prozent und nach 15 Jahren noch 63 Prozent. Die Ergebnisse der Strukturanalyse widerlegen deutlich die Vorstellung, dass viele Altenpflegefachkräfte schon nach kurzer Zeit ihren Beruf verlassen würden.«

Was wurde hier wie untersucht? Man hat sich in der von der Bundesregierung zitierten Studie der IABS bedient: Die IAB-Beschäftigtenstichproben (IABS) hat tagesgenaue erwerbsbiografische Daten für zwei Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten geliefert (mittlerweile hat die Stichprobe der Integrierten Arbeitsmarktbiografien (SIAB) die IAB-Beschäftigtenstichprobe (IABS) und die Stichprobe der Integrierten Erwerbsbiographien (IEBS) ersetzt).

Bei aller Mächtigkeit der Datensätze muss man sich also an dieser Stelle vor Augen führen, dass es sich um eine Stichprobe handelt und die aus dieser Stichprobe berechneten Werte auf die Grundgesamtheit hochgerechnet werden. Wir wissen also definitiv nicht, wie das mit dem Berufsverbleib "der" Pflegekräfte insgesamt aussieht, denn dazu müsste man ja für jeden Beschäftigten ein individuelles Konto haben und sorgfältig führen. Und auch die anderen Zahlen, die immer wieder in der Diskussion des Verbleibs von Pflegekräften in ihrem Beruf aufgerufen werden, basieren auf Auswertungen von Stichproben.

Und wenn man sich nicht wie die Bundesregierung nur auf eine Studie bezieht, dann wird die Befundlage schon deutlich unübersichtlicher.

Bereits im Jahr 2012 habe ich in der Zeitschrift "Gesundheit und Gesellschaft" diesen Aufsatz veröffentlicht: Mit Herzensbildung und Studium: »Der Pflegebedarf steigt und die Fachkräfte werden knapp. Vor diesem Hintergrund diskutieren Fachleute und Politik über eine Reform der Pflegeausbildungen. Im Raum steht eine einheitliche Basisqualifikation für Kranken- und Altenpflege. Um die Attraktivität des Berufes zu erhöhen, müssen sich aber auch Gehalt und Image verbessern, meint Stefan Sell.« So der Vorspann. Und in diesem Beitrag findet man unter der Überschrift "Verweildauer in Pflegeberufen: Spätstarter halten länger durch" die folgenden Hinweise auf die damalige Datenlage:

»Die Angaben zur Verweildauer in Pflegeberufen haben eine große Spannbreite. So kommt beispielsweise Hans Dietrich 1995 auf 9,5 Jahre, davon 60 Prozent in einer Einrichtung. Margret Flieder ermittelt in einer Studie 2002 eine Verweildauer im Pflegeberuf von fünf bis sieben Jahren. Das Institut für Gesundheit und Management kommt für Pflegekräfte in Nordrhein-Westfalen 2004 auf 9,4 Jahre Verweildauer im Beruf. Die NEXT(Nurses’ early exit)-Studie aus dem Jahr 2005, die 13 europäische Länder berücksichtigte, errechnete für Pflegekräfte in Deutschland eine durchschnittliche Verweildauer von sechs Jahren in einer Einrichtung.

Längsschnittstudien kommen zu folgenden Befunden: 11,7 Jahre für examinierte Altenpflegekräfte mit einem Berufsbeginn 1976 bis 1980 (Institut für Wirtschaft, Arbeit und Kultur in Frankfurt, 2009) sowie 12,7 Jahre (Tobias Hackmann, 2009) und 13,7 Jahre für Krankenschwestern. Nach Angaben der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) liegt die Verweildauer in der Altenpflege bei 8,4 und in der Krankenpflege bei 13,7 Jahren.

Die Forschungsstudie zur Verweildauer in Pflegeberufen in Rheinland-Pfalz (ViPb) von der Universität Halle-Wittenberg zeigte, dass diejenigen den Pflegeberuf länger ausüben, die erst im Alter von 35 bis 44 Jahren beginnen. Von den Krankenpfleger/innen dieses Eintrittsalters sind bundesweit nach zehn Jahren noch über 80 Prozent beschäftigt, in der Altenpflege sind dies rund 72 Prozent. Umschüler/innen haben also eine gute Chance, lange in ihrem Beruf zu arbeiten.

Die Verweildauer in der Krankenpflege ist deutlich höher als in der Altenpflege.«

Und weiter geht's mit anderen Befunden:

In einer Studie zur Berufstreue in Gesundheitsberufen konnte nachgewiesen werden, dass vor allem Berufsangehörige mit Helferqualifikationen eine vergleichsweise geringe Berufsbindung zeigen. Danach ist bundesweit examinierten Krankenpflegekräften eine deutlich höhere Berufstreue nachzuweisen als Helfern in der Krankenpflege und Altenpflegern/-helfern. Die angesprochene Studie findet man hier:

Wiethölter, Doris (2012): Berufstreue in Gesundheitsberufen in Berlin und Brandenburg. Die Bindung der Ausbildungsabsolventen an den Beruf: Ausgewählte Gesundheitsberufe im Vergleich. IAB-Regional Berlin-Brandenburg 03/2012, Nürnberg

Und eine weitere Arbeit aus dem IAB konnte das hier ans Tageslicht fördern: 15 Jahre nach Ausbildungsende waren von den Altenpflegern/-helfern in Berlin bzw. Brandenburg jeweils nur noch zwischen 32 bzw. 28 Prozent im erlernten Beruf tätig. Hier zeigen Krankenschwestern/-pfleger mit gut 83 bzw. 86 Prozent deutlich höhere Werte. Weiter konnte gezeigt werden, dass Berufswechsel oder Ausstiege sich vor allem in den ersten fünf Jahren nach Ausbildungsende vollziehen. Gründe für eine geringere Berufstreue können vielfältig sein: Auf individueller Ebene können Arbeitszufriedenheit und berufliche Belastungssituation ausschlaggebend sein. Aber auch die Arbeitsbedingungen wie z. B. die Lohnhöhe kann sich auf Erwerbsentscheidungen auswirken:

Doris Wiethölter, Dieter Bogai und Jeanette Carstensen (2013): Die Gesundheitswirtschaft in Berlin-Brandenburg. IAB-Regional Berlin-Brandenburg 01/2013, Nürnberg

Und zur Abrundung der Thematik eine Veröffentlichung aus dem vergangenen Jahr mit erstaunlichen Werten:

Caroline Neuer-Pohl (2017): Das Pflege- und Gesundheitspersonal wird knapper, in: BWP, Heft 1/2017

Dort findet man diesen Hinweis:

"Erwerbspersonen, die einen Pflege- oder Gesundheitsberuf erlernt haben, wechseln im Vergleich zu anderen Berufsfeldern seltener ihren Beruf. 2013 lag die Stayer-Quote* bei 74,4 Prozent. Dies ist im Vergleich mit der durchschnittlichen Stayer-Quote von etwa 46,7 Prozent vergleichsweise hoch. Nur in den Sicherheitsberufen (79,3 %), Gesundheitsberufen mit Approbation (83,8 %) und sozialen Berufen (76 %) war sie noch höher. In der Projektion nimmt die Stayer-Quote in den Pflege- und Gesundheitsberufen bis 2035 aufgrund der Lohnentwicklung um ca. vier Prozentpunkte ab. Dies senkt das Angebot an qualifizierten Fachkräften … Gleichwohl zeigt die mit 70 Prozent immer noch sehr hohe Stayer-Quote, dass es neben Maßnahmen, um das bestehende Personal zu halten, besonders lohnenswert ist, in diesem Bereich auszubilden. Denn ein Großteil der Ausgebildeten würde im Berufsfeld bleiben."
* "Stayer"-Quote = Anteil derer, die im Feld ihres erlernten Berufs verbleiben

Und sogleich muss man dann diese IAB-Studie über den Pflegemarkt in Sachsen-Anhalt ins Feld führen, die etwas pessimistischere Werte aufzeigt:

»Aus der Kohorte 2000 für Sachsen-Anhalt waren im Jahr 2001 noch 85 Prozent als Altenpfleger gemeldet, 2009 waren es 67 Prozent und 2014 mit 53 Prozent nur noch gut die Hälfte. Auch im gesamtdeutschen Durchschnitt lag die Verbleibrate 2014 nur noch bei 53 Prozent. Für die Kohorte 2005 ist die Entwicklung ähnlich: 2010 waren aus Sachsen-Anhalt noch 78 Prozent als Altenpfleger tätig, 2014 nur noch 61 Prozent (Deutschland: 74 % und 60 %). Damit zeigt sich zum einen eine grundsätzlich hohe berufliche Umorientierung der Altenpfleger. Böhme/Eigenhüller (2013: 37) und Pilger/Jahn (2013: 47) kommen in einem Vergleich des Berufsverbleibs der Altenpfleger mit dem anderer Berufe zu ähnlichen Ergebnissen. Auch generell wird die berufliche Verbleibdauer in Gesundheitsberufen im Vergleich zu anderen Tätigkeitsfeldern als gering betrachtet (Flenreiss/Rümmele 2008: 108; Nowak/Haufe/Ritter-Lempp 2007: 387) … Für den abnehmenden Verbleib der Altenpfleger in ihrem Beruf können verschiedene Gründe angeführt werden. So dürften auf der individuellen Ebene die Arbeitszufriedenheit, die Arbeitsinhalte und die berufliche Belastungssituation eine große Rolle spielen. Hien (2009: 37) führt Zeitdruck als Folge von Personalmangel, hohe körperliche und emotionale Beanspruchungen sowie Organisationsdefizite als Einflussfaktoren an. Weitere Belastungsgründe sind geringe individuelle Handlungsspielräume und unregelmäßige Arbeitszeiten (Landenberger/Lohr 1994: 333). Auch die geringe Lohnhöhe kann sich auf die Berufsentscheidung auswirken.«

Aber interessant ist die Frage, was die Altenpflegekräfte stattdessen machen:

»Aus der Kohorte 2000 für Sachsen-Anhalt waren im Jahr 2014 von den insgesamt 1.133 Personen, die noch in Beschäftigung waren, 717 als Altenpfleger tätig … Von den restlichen 416 Personen übten 188 eine Tätigkeit als Krankenschwester aus, 46 als Heimleiter/Sozialpädagogen, 45 als Kindergärtner und 29 als Helfer in der Krankenpflege. Damit verblieben 308 Personen in Berufsbereichen, die direkt oder indirekt mit dem Bereich der Altenpflege verwandt sind.«

Die Studie, aus der die zitierten Werte entnommen wurden, findet man hier:

Michaela Fuchs (2016): Der Pflegearbeitsmarkt in Sachsen-Anhalt. Aktuelle Situation und zukünftige Entwicklungen. IAB-Regional Sachsen-Anhalt-Thüringen 5/2016, Nürnberg

Man kann an den Beispielen erkennen - so einfach ist es dann doch nicht mit der einen Zahl. Zudem muss berücksichtigt werden, dass die zitierten Studien - auch die von der Bundesregierung in ihrer Antwort in den Ziegenstand gerufene Untersuchung - notwendigerweise Erwerbsbiografien ausgewertet haben, die teilweise sehr lange zurückliegen und zu anderen Zeiten begonnen wurden. Mit Blick auf die heutige Situation kann man durchaus plausibel die Position vertreten, dass sich der Verbleib im Pflegeberuf eher reduziert haben dürfte angesichts der Ökonomisierungsfolgen in diesem Bereich und der beklagten Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Das muss dann auch gesehen werden im Kontext einer insgesamt guten Arbeitsmarktlage, die es dann auch für den einen oder anderen, die ansonsten im Beruf geblieben wären, dazu ermuntert, abzuwandern. 

Gibt es einen Befund, den man aus den vielen Einzelstudien mit Blick auf das Halten der Pflegekräfte besonders hervorheben sollte? Den gibt es:

Wichtig ist die mittlerweile vorliegende Erkenntnis, dass sich Berufswechsel oder Ausstiege vor allem in den ersten fünf Jahren nach Ausbildungsende vollziehen.

Nur als Anmerkung: Ein vergleichbarer Befund wurde 2010 bei einer umfangreichen empirischen Untersuchung (ebenfalls auf Basis der IABS-Daten) über die Berufsverläufe von Erzieherinnen in Rheinland-Pfalz herausgearbeitet - mit Abbruchquoten von 20 Prozent in den ersten drei Jahren. Vgl. dazu Sell, S. und Kersting, A. (2010): Gibt es einen (drohenden) Fachkräftemangel im System der Kindertagesbetreuung in Rheinland-Pfalz? Eine empirische Untersuchung zum Personalbedarf in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege. Kurzdarstellung der Hauptergebnisse einer Studie im Auftrag des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz. Remagener Beiträge zur Kinder- und Jugendhilfe 04-2010, Remagen

Auf den Berufseinstieg und seine Attraktivität kommt es also ganz besonders an, wenn man verhindern will, dass eine nicht kleine Gruppe an Pflegekräften bereits nach kurzer Zeit das Berufsfeld wieder verlässt.